Echt oder Fake? Der Nachbau der Lokomotive «Limmat»

Martin Cordes, Leiter Archive/Bibliothek
1947 feierten die SBB das einhundertjährige Jubiläum. Aus diesem Anlass sollte ein originalgetreuer Zug der «Spanisch-Brötli-Bahn» fahren. Da aber keine der ursprünglichen Lokomotiven überlebt hatte, wurde von der SLM ein Nachbau erstellt. Heute stellt sich die Frage: Wurde durch den Nachbau eine historische Lokomotive wiederhergestellt, oder wurde ein neues «Original» erzeugt?

Die Geschichte der «Limmat» ist nicht nur mit dem Jubiläum, sondern auch mit der Idee eines Schweizerischen Verkehrsmuseums verbunden. Diese Idee wurde 1937 – im Vorfeld der Landesausstellung 1939 – wiederbelebt. Treibende Kräfte waren Dr. Cottier, Direktor Kreis III der SBB und der Ingenieur Eugène Fontanellaz. 1942 wurde der Verein «Verkehrshaus der Schweiz» gegründet. Fast gleichzeitig bekam Fontanellaz mit Hinblick auf das 100jährige Jubiläum 1947 den Auftrag, Konstruktionszeichnungen für die Nachbildung der ersten Schweizerischen Lokomotive «Limmat» herzustellen, da keine Originalmaschinen der Spanisch Brötli-Bahn mehr erhalten waren. Es war das Ziel, für das Jubiläum einen «originalgetreuen» Zug der Spanisch Brötli-Bahn zu erstellen, der dann später im Verkehrshaus auch die Anfänge der Eisenbahn in der Schweiz verdeutlichen sollte.

Das war im Verständnis der Gründer des Verkehrshauses, die ja keine Museumsfachleute, sondern Eisenbahner und Ingenieure waren, ein durchaus legitimes Vorgehen. Fontanellaz suchte alte Zeichnungen und Dokumente. Er fand zwar keine Originalpläne für die Nordostbahnmaschinen, konnte aber auf Originalzeichnungen der Fabrik Emil Kessler in Karlsruhe zurückgreifen. Dort waren die Lokomotiven der Nordostbahn nach Vorbildern der Württembergischen Bahn gebaut worden. Nach diesen Vorbildern wurden neue Zeichnungen angefertigt, die als Grundlage für den Bau in der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik SLM dienten.

03 Project einer Württenberger Schnellzugmaschine
Project einer Württembergischen Schnellzugslokomotive.

Also ist die «Limmat» doch eine völlig neue Maschine? Nicht ganz. Aus der Frühzeit der Schweizer Bahngeschichte waren damals nämlich noch zwei Lokomotiven vorhanden: die «Genf» und die «Speiser» der Schweizerischen Centralbahn, die 1857 und 1858 ebenfalls bei Kessler gebaut wurden. Dabei war die «Genf» noch relativ originalgetreu erhalten, während die «Speiser» schon mehrfach verändert worden war. Es wurde beschlossen, die «Speiser» abzubrechen, um Teile von ihr für die Rekonstruktion der Limmat zu verwenden. Von der Konstruktion her waren die «Limmat» und die «Speiser» jedoch unterschiedliche Maschinentypen. Die Wiederverwendung der historischen Teile geschah dann auch nicht um Originalität herzustellen, sondern rein zu Sparzwecken. Man hoffte, damit ca. 10-12 000 Franken einzusparen.

Dass es die Konstrukteure und Erbauer der neuen «Limmat» mit der «detailgetreuen Reproduktion» dann doch nicht so genau nahmen, lässt sich an zwei Beispielen einfach zeigen. Gut sichtbar ist das Sicherheitsventil am Kessel, oberhalb des Führerstandes. Es ist eines der Teile, die unverändert von der abgebrochenen Lokomotive «Speiser» übernommen wurden. Auf den Zeichnungen und Fotografien der beiden Lokomotiven ist der Unterschied der beiden Ventile gut zu erkennen. Eine andere wichtige Änderung in der Konstruktion ist weniger deutlich zu sehen. Die ursprüngliche Lokomotive konnte nur während der Fahrt mit Wasser aus dem Tender versorgt werden. Um einen einfacheren Betrieb zu ermöglichen, hat man bei der Rekonstruktion die Speisepumpen durch einen Injektor ersetzt. Nun konnte der Kessel auch im Stand befüllt werden, was beim Original nicht möglich war.

05 Speiser Limmat
Planauschnitte mit Darstellung der Sicherheitsventile der «Speiser» (links) und des historischen Vorbilds der «Limmat».
Der Jubiläumszug begeisterte auf seiner Tournee durch die Schweiz während des Jubiläumsjahres Jung und Alt

Kritik an dieser Interpretation der «originalgetreuen Reproduktion» gab es 1947 nicht. Es wurde allerdings die Frage aufgeworfen, ob es opportun sei, in der Kriegszeit bzw. unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges eine erhebliche Summe Geld in diese Reproduktion zu stecken. Die SBB wehrten diese Kritik mit dem Hinweis ab, dass es sich ja nicht nur um eine Investition für das Jubiläum handele, sondern der Zug eine Attraktion für das zukünftig zu erstellende Verkehrshaus der Schweiz sei.

Der Jubiläumszug begeisterte auf seiner Tournee durch die Schweiz während des Jubiläumsjahres Jung und Alt: zwischen April und November 1947 wurden auf fast 1500 Fahrten über 300 000 Passagiere befördert. Die Lokomotive wurde später im Jahr 1959 eröffneten Verkehrshaus ausgestellt und ist heute als Teil der Sammlungen von SBB Historic im Depot Brugg remisiert.

07 Jubiläumszug
Jubiläumszug mit Lokomotive «Limmat», 1947.

Und wie stellt sich heute die Sicht auf die «Limmat» dar? Sie ist seit 75 Jahren ein vielfach bewundertes und bestauntes Objekt. Sie dient nicht nur dem Gedenken an die Spanisch-Brötli-Bahn, sondern ist ganz allgemein ein Erinnerungsstück an die Anfänge eines Verkehrsmittels, das die Schweiz und die Mobilität überhaupt grundlegend veränderte. Die 75jährige Lokomotive ist längst ein eigenständiges «historisches Fahrzeug», an dessen Erhaltung und Unterhalt die gleichen strengen Massstäbe angelegt werden, wie an die Erhaltung anderer historischer Fahrzeuge in den Sammlungen von SBB Historic.

02 Limmat D1 3 Zus blaupause
Zusammenstellungszeichnung der «Limmat» von Ing. A. Steinbrüchel, 1945
04 Speiser Erste Schnellzuglokomotive der ehemaligen SCB 1857
Typenskizze der Lokomotive «Speiser» der Schweizerischen Centralbahn (1857)
06 Speiser SV246 11
Lokomotive «Speiser» mit Wagen der Vereinigten Schweizerbahnen, 1937.
08 Spanisch Brötli Bahn
Spanisch-Brötli-Bahn, 1997.

Quellen:
GD_GS_SBB01_080: Akten des Generalsekretariats SBB zum Nachbau der «Limmat»
GD_GS_SBB01_082_05: Schlussbericht über die Jubiläumsveranstaltungen
FRE_SLM_00233: Ordrebuch der SLM zum Nachbau der «Limmat»

Abbildungsverzeichnis:

1 - Lokomotive «Limmat». Fabrikbild SLM, 1947.

2 - Project einer Württembergischen Schnellzugslokomotive. Maschinenfabrik Esslingen (Emil Kessler), 1853.

3 - Planauschnitte mit Darstellung der Sicherheitsventile der «Speiser» (links) und des historischen Vorbilds der «Limmat».

4 - Jubiläumszug mit Lokomotive «Limmat», 1947.

5 - Zusammenstellungszeichnung der «Limmat» von Ing. A. Steinbrüchel, 1945.

6 - Typenskizze der Lokomotive «Speiser» der Schweizerischen Centralbahn (1857). Werkstätte Olten, 1914.

7 - Lokomotive «Speiser» mit Wagen der Vereinigten Schweizerbahnen, 1937.

8 - Spanisch-Brötli-Bahn, 1997.