Hauptwerkstätte Yverdon: Gestern Fossil, Morgen Treiber in der Energiewende

Henning Deblitz, Fotoarchiv
Die SBB-Hauptwerkstätten mögen in der Geschichte der Eisenbahn eine etwas hintergründige Rolle einnehmen, doch sind sie ein unabdingbarer Bestandteil einer industrialisierten Wirtschaft. Wir werfen einen Blick auf die Hauptwerkstätte Yverdon und gehen der wirtschaftlichen und ökologischen Bedeutung des Eisenbahngüterverkehrs im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach.

Jedes Medium – ob Foto, Text oder Video – hat die Eigenschaft, dass es die Realität auf irgendeine Art abbildet. Doch es gibt noch eine weitere, wichtige Qualität, die ein Medium in sich trägt: Es «zeigt» nämlich nicht nur die Realität, es «verbirgt» auch, und «blendet aus». Die Denkweise des Betrachters ist beim Erkennen dessen, was ein Foto zeigt oder verbirgt, nicht unerheblich. Dies führt dazu, dass das, was wir auf einem Bild sehen, in verschiedenster Weise gedeutet und gewertet werden kann, wodurch ein Bild facettenreicher und tiefgründiger wird.

Auf den ersten Blick scheint der Fotobestand der HW-Yverdon (1930 bis 2000) Eindeutiges zu zeigen: Wir blicken auf die Werkstätte und ihre einzelnen Abteilungen, die Arbeiter bei ihrem Tagwerk – Schweissen, Schneiden, Sägen, Hämmern und Bohren – und nicht zuletzt die unterschiedlichen Lokomotiven und Güterwaggons, die auf manchen Bildern ihre Ästhetik entfalten.

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Schweisser bringt auf einer Stahlstrebe eine automatische «STABLOC» -Kupplung an einem Güterwaggon an (ca. 1960)

Optimierung, Wachstum und die freie Marktwirtschaft

Doch richten wir unser Auge auf das, was sich aus den Bildern nicht auf den ersten Blick erschliesst, und stellen uns die Frage: Was bewegte das Tagwerk der Arbeiter der HW-Yverdon ausserhalb der Montagehallen? Betrachtet man zum Beispiel das Bild eines Schweissers, der eine sog. «STABLOC» -Kupplung an einen Güterwaggon anbringt, so ist dies zunächst einmal Zeugnis seiner Arbeit selbst. Doch was für uns im ersten Moment aus dem Bild nicht hervorgehen mag, sind weitreichende wirtschaftliche und ökologische Zusammenhänge, innerhalb derer die Arbeit dieses Schweissers nur ein Puzzleteil ist, und die sich in etwa wie folgt zusammensetzen. Der Schweisser optimierte den Güterwaggon, was, hochgerechnet, zu Optimierungen und Produktivitätssteigerungen im Eisenbahngüterverkehr beitrug – z.B. durch schnellere Güterwaggonabfertigungen oder Zugkompositionierungen. Der Fluss von Waren und Gütern wurde dynamischer, profitabler, effektiver und natürlich voluminöser.

Ein Schreiben des Zugförderungs- und Werkstättendienstes vom 4. Juli 1969 gibt den Willen der SBB-Generaldirektion aus jener Zeit wieder.

Es enthielt massgeschneiderte und detaillierte Anweisungen zur Ausführung der Transformation von 3800 Güterwaggons über einen Zeitraum von 7 Jahren, dies allein in der HW-Yverdon. Darin äussert sich der «Rationalisierungsdrang» vor allem dadurch, dass jeder einzelne Arbeitsschritt minutiös und bis ins kleinste Detail aufbereitet wurde, was den Arbeitern wenig Spielraum für eigene Entscheidung bei der Ausführung ihrer Arbeit gelassen haben mag.

Die «STABLOC» -Kupplung ist natürlich nur ein Beispiel unter vielen «Prozessoptimierungen», die für den dynamischeren Fluss von Waren und Gütern relevant gewesen sein mögen. Auch die grossen Um- und Ausbauten der HW-Yverdon im Verlaufe ihrer Existenz reflektieren gewissermassen den Geist der freien Marktwirtschaft des 20. Jahrhunderts. Das HW musste bei einer stetig expandierenden Wirtschaft auch die Wartung und Instandhaltung einer kontinuierlich wachsenden Zahl von Güterwaggons stemmen. Wachstum, Optimierung und zunehmende Rentabilität prägen so das Industriewerk Yverdon bis heute.

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Mitglieder des «Club d'Efficience de Lausanne» begutachten die Abläufe in der HW-Yverdon (1974)

Im Zeichen wirtschaftlichen Wachstums und Produktivitätssteigerung seit der Nachkriegszeit steht auch der architektonische Wandel der Hauptwerkstätte Yverdon. Das ursprüngliche Gebäude der HW-Yverdon, 1853 durch die Ouest-Suisse-Eisenbahngesellschaft in Auftrag gegeben, war noch universell-funktional, verhältnismässig klein und bescheiden. Es diente vor allem der Wartung von Dampflokomotiven. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen bereits fünf wesentliche Gebäude hinzu, wodurch sich das Hauptwerkstättenareal bereits um das ca. siebenfache vergrösserte.

Zu diesen Gebäuden gehörten dann jeweils eigene Hallen für die Lokomotiv- sowie die Waggonabteilungen. Bis in die späten 1960er Jahre fanden weitere Umbauten statt, wobei vor allem die Hallen für Waggon- und Lokomotivwartungen z.T. erneuert, jedoch hauptsächlich vergrössert wurden. Bei jeder Umstrukturierung wurden die alten Gebäude, in denen zuvor eine Vielfalt an Aufgaben ausgeführt worden war, in spezialisierte Abteilungen umfunktioniert, was ebenfalls zu einer höheren Produktivität beigetragen haben mag.

Wachstum des Atelier Principaux CFF d Yverdon im 19 Und 20 Jahrhundert Quelle Eisenbahnamateur 51997
Wachstum des «Atelier Principaux CFF d'Yverdon» im 19. Und 20. Jahrhundert, (Quelle: Eisenbahnamateur 5/1997)

Ein weiterer Schritt in Richtung Optimierung und Produktivität war die seit ca. 1925 stattfindende Spezialisierung der SBB-Hauptwerkstätten auf bestimmte Aufgaben. Wartungen und Reparaturen bestimmter Fahrzeugmodelle wurden so geographisch auf die unterschiedlichen HW-Standorte in der Schweiz aufgeteilt. Im Jahre 1970 gestaltete sich diese Aufgabenteilung wie folgt.

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Tankwagen in der HW-Yverdon. Dieses Exemplar stammt noch aus der Zeit des zweiten Weltkrieges.

In den HWs in Zürich und Yverdon wurden elektrische Lokomotiven und andere Triebfahrzeuge gewartet. Offene Güterwaggons, wie z.B. Flachwaggons, die u.a. für den Transport von Autos, Baumstämmen, oder Eisenbahnradsätzen benutzt werden, wurden hauptsächlich in Bellinzona in Stand gehalten, während in Biel vor allem Tankwagen repariert und gewartet wurden, die u.a. für den Transport von Flüssigkeiten oder Gasen wie Öl und Erdgas oder Chemikalien verwendet worden sein mögen. Um die gedeckten Güterwaggons hingegen kümmerten sich die Schlosser, Schweisser und Schreiner der HW-Yverdon. Eine Werbebroschüre über die HW-Yverdon aus dem Jahre 1961 berichtet stolz von 14‘700 reparierten und gewarteten Güterwaggons, über 460 Lokomotiven, Triebwagen oder Rangierloks sowie über 250 Servicewaggons (die u.a. natürlich für die Instandhaltung des Schienennetzes gebraucht werden, und damit auch einen Mehrwert für den Schienengüterverkehr im Allgemeinen bringen).

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Typisches Bild: Güterwaggons überfluten Chiassos Güterbahnhof. Auch in Yverdon neben der HW überzog ein Meer von Güterwagen die Rangiergleise.

Ökologie und Eisenbahn im Güterverkehr

Bei den Stichworten «Wachstum» und «Optimierung» stellen sich besonders aus heutiger Sicht ökologische Fragen: Wofür und unter welchen Gegebenheiten also wurde der Eisenbahngüterverkehr eigentlich optimiert? Welche Güter wurden durch solche Optimierung begünstigt? Und, allgemein, wie entwickelte sich die Transportleistung der Bahn im Verhältnis zu dem anderen primären und aus heutiger Sicht zweifelsfrei unökologischeren Transportweg für Güter, Ressourcen und Menschen, dem LKW? Diese Befragung soll das Nachdenken über die historische sowie gegenwärtige Rolle unseres Güterverkehrs anregen, und über die Chancen, die sich dabei für die Eisenbahn eröffnen mögen. Denn schon in den 1960er Jahren begannen sich die Hinweise zu verdichten, dass die fossile Industrialisierung unseren Lebensraum bedroht.

Ein kurzer Rückblick: 1965 warnte der Ozeanograph Roger Revelle öffentlich vor den drohenden Auswirkungen durch die Freisetzung von CO2 aus fossilen Brennstoffen:

«Die Öfen und Verbrennungsmaschinen der Menschen stossen etwa 12 Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr in die Erdatmosphäre ab. Durch seine weltweite industrielle Zivilisation führt der Mensch unwissentlich ein riesiges geophysikalisches Experiment durch. Binnen weniger Generationen verbrennt er die fossilen Brennstoffe, die in den vergangenen 500 Millionen Jahren langsam in der Erde entstanden sind. Das bei dieser Verbrennung entstehende CO2 wird in die Atmosphäre abgegeben […]. Dies kann […] messbare und vielleicht deutliche Veränderungen des Klimas [nach sich ziehen], und wird nahezu sicher zu erheblichen Veränderungen der Temperatur und anderen Eigenschaften der Stratosphäre führen.»

Welche wirtschaftliche und ökologische Rolle kommt also dem Eisenbahngüterverkehr und, damit verbunden, den Güterwaggon-Werkstätten wie jener in Yverdon zu, während das Bewusstsein über die Folgen der Industrialisierung seit den 1960ern zunahm? Wie entwickelte sich die Eisenbahn als jenes Gütertransportmittel, das den durch die Industrialisierung geschaffenen Wohlstand am ehesten bewahren konnte, und dies auf nachhaltige, umweltfreundlichere Art und Weise?

Güter für die «fossile» Wirtschaft

Antworten darauf bieten beispielsweise die jährlichen Statistiken der SBB. Diese geben z.B. einen Überblick über die wichtigsten «Eisenbahngüter» seit der Nachkriegszeit bis in die Wirtschaftsboom-Jahre der 1970er. Vor allem Baumaterialien, Flüssigbrennstoffe sowie Erze, Eisen und Maschinen darunter. Auch Nahrungs- und Futtermittel, Chemikalien und Düngemittel (Landwirtschaft), sowie feste Brennstoffe (wie Kohle) gehörten zu jenen Gütern, die hauptsächlich durch die Eisenbahn und innerhalb der Schweiz bewegt wurden (siehe nebenstehende Grafik).

Primäre Eisenbahngüter 1978
«Primäre Eisenbahngüter». Quelle: SBB Statistisches Jahrbuch 1978, S.73
Ein Blick auf den Transitgüterverkehr der Eisenbahn in der Schweiz zeigt, dass auch grosse Mengen fossiler Brennstoffe Schweizer Schienen passierten.

Besonders die Gotthardstrecke diente in den 1960er Jahren der Überführung von Kohle aus Deutschland nach Italien. Kohle wurde in Akademikerkreisen und bei Wirtschaftsakteuren gar als «wichtigste Warengattung im schweizerischen Transit» gesehen. 1,86 Millionen Tonnen Kohle rollten aus dem Ruhrgebiet durch die Schweiz und nach Italien, allein in der Nachkriegszeit.

Die Infrastruktur für Eisenbahngüter in der Schweiz begünstigte also die Verteilung fossiler Brennstoffe zwischen den durch fossile Brennstoffe angetriebenen Wirtschaften Europas. Werkstätten, wie Yverdon, Biel und Bellinzona, erfüllten hierbei ihren Zweck, die für den Transport fossiler Brennstoffe benötigten Güterwaggons in Gang zu halten.

Gütertransport nach Verkehrsmittel 1978
Gütertransport nach Verkehrsmittel. Quelle: SBB Statistisches Jahrbuch 1978, S. 175

Schiene vs. Strasse: ein historisches Wettrennen!

Auch der historische Vergleich bei der Gütertransportleistung der Eisenbahn und dem mit fossilen Brennstoffen betriebenen LKW widerspiegelt – besonders ab der Nachkriegszeit – ein vom Wachstumsdrang geprägtes Denken und Handeln der Wirtschaftslenker. Schon zu Beginn der 1950er Jahre hatte der LKW die Eisenbahn als wichtigstes Gütertransportmittel verdrängt (siehe nebenstehende Grafik). Schon 1950 wurden über 70% aller in der Schweiz bewegten Güter durch LKWs ausgeliefert – die Forschung zum Klimawandel steckte damals freilich noch in den Kinderschuhen. Diese Entwicklung war unter anderem der kontinuierlichen Versorgung westlicher Länder mit billiger fossiler Energie aus den Golfstaaten zu verdanken.

Nach dem Bekanntwerden der klimatischen Folgen der «fossilen» Industrialisierung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sollte der Anteil an den durch LKWs transportierten Gütern bis Ende der 70er nur noch grösser werden – die Schiene wurde als Transportmittel zunehmend verdrängt.

Doch die Frage nach der Ökologie des Schienengütertransports in der Schweiz muss noch unter einem anderen Aspekt beleuchtet werden: zwar war die Eisenbahn in der Schweiz schon zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu fast 100% «elektrifiziert». Doch hiess dies natürlich nicht, dass sie damit automatisch zu einem klimaschonenden Transportmittel wurde. Auch das vollständig elektrifizierte Schienennetz ist bis heute stets von den Entwicklungen im Energiemix abhängig (siehe nebenstehende Grafik). Während der Energiekonsum in der Nachkriegszeit zu explodieren begann, stieg auch der Konsum an Erdöl rapide an (der billige und nun leicht verfügbare Energieträger war mitverantwortlich für diesen plötzlich explodierenden Energiekonsum). Zwar prägte sich in der Schweiz bis heute ein beträchtlicher Teil an Wasserkraft und anderen erneuerbaren Energien aus. Doch war und ist der Anteil fossiler Brennstoffe am Energiekonsum der Schweiz, von dem auch die Triebmotoren der Eisenbahn abhängig sind, damals wie heute noch immer in der Mehrheit.

Historischer Energiemix der Schweiz
Historischer Energiemix der Schweiz, Quelle: BFS 2022

Zukunft des Güterverkehrs

Das kontinuierliche Wachstum der HW-Yverdon im 20. Jahrhundert reflektiert gewissermassen den globalen Drang zum Wirtschafts- und Handelswachstum im Zuge einer auf fossilen Energien basierenden Industrialisierung. In der Nachkriegszeit war Wachstum ein mutmassliches Mittel gegen einen neuen grossen Krieg. Dieses Denken manifestierte sich bis heute in den Leitlinien von Wirtschaftsorganisationen wie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung) – in der die Schweiz Mitglied seit Gründung im Jahr 1961 ist. Jedoch müssen diese Leitlinien in Zeiten, in denen die Folgen einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Industrialisierung nun immer sichtbarer, immer spürbarer werden, kritisch geprüft werden. Der Klimawandel rückt das Potential der Eisenbahn als nachhaltiges Transportmittel für Personen oder Güter zweifelsfrei in ein gutes Licht.

Doch aus verkehrshistorischer Sicht trug sie aus verschiedenen Gründen zunächst zum Problem bei, nicht nur weil sie, bis zur Elektrifizierungsphase, mit Kohle betrieben wurde, sondern, weil sie auch die Verteilung bzw. den Transport von Kohle und anderen de facto klimaschädlichen Gütern begünstigte. Und letztlich, weil sie den LKW als Gütertransportweg bis heute nicht wieder verdrängen «konnte». In der Schweiz werden heute nur noch 37% aller Tonnenkilometer via Schiene zurückgelegt, in der EU lediglich etwa 17%. Damit bleibt nur folgende, mit grosser Zuversichtlichkeit gestellte Frage: wird das Schweissen, Schlossern und Schreinern an den Güterwaggons im heutigen Industriewerk Yverdon und die Eisenbahn im Allgemeinen künftig dem Zwecke dienen können, die Ökologie und damit das Wohl der Umwelt, die unser Lebensraum ist und von der wir abhängig sind, in den Mittelpunkt zu rücken?

Quellen:

Ulrich (SBB), SBB-Hauptwerkstätten: eine Welt der verschiedensten Berufe, 1970, S. 5.

Güterverkehr nach Verkehrsträger Schweiz, Bundesamt für Statistik 2021, https://www.bfs.admin.ch/bfs/d...

Güterverkehr nach Verkehrsträger EU, Destatis 2021, https://www.destatis.de/Europa...

Abbildungsverzeichnis:

  1. Schweisser bringt auf einer Stahlstrebe kauernd eine automatische «STABLOC» -Kupplung an einem Güterwaggon an (ca. 1960) (F_107_00017_02)
  2. Mitglieder des «Club d'Efficience de Lausanne» begutachten die Abläufe in der HW-Yverdon im März 1974 (F_107_00164_10)
  3. Bombardierter Tankwaggon im HW-Yverdon von 1946 (F_107_00020_086)
  4. Typisches Bild: eine Flut von Güterwaggons bedeckt den Güterbahnhof in Chiasso. Auch am Bhf. Yverdon, direkt neben der Hauptwerkstätte, überzog ein Meer von Güterwagen die Rangiergleise. (R_4640_05).
  5. Wachstum des «Atelier Principaux CFF d'Yverdon» im 19. Und 20. Jahrhundert (Quelle: Eisenbahnamateur 5/1997)
  6. «Primäre Eisenbahngüter». Quelle: SBB Statistisches Jahrbuch 1978, S.73
  7. Gütertransport nach Verkehrsmittel. Quelle: SBB Statistisches Jahrbuch 1978, S. 175
  8. Historischer Energiemix der Schweiz. Quelle: Bundesamt für Statistik 2022, https://www.bfe.admin.ch/bfe/d...